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Kalte Progression

Autorenbild: Eva Heinz-ZentgrafEva Heinz-Zentgraf
Jahressteuergesetz 2024 - Neuigkeiten



Vor Kurzem, in einem Seminar, wurde erneut ein Thema aufgegriffen, das viele von uns betrifft und dennoch immer wieder zu Missverständnissen führt: die sogenannte kalte Progression.


Das Phänomen ist zwar nichts Neues, doch gerade in den letzten Jahren ist es durch steigende Lebenshaltungskosten und die anhaltende Inflation zunehmend in den Fokus gerückt. Dieser Artikel widmet sich den Hintergründen, dem Mechanismus und den Folgen der kalten Progression – und warum sie uns oft unbemerkt im Alltag belastet.

 


Was ist die kalte Progression überhaupt?

 

Die kalte Progression beschreibt einen Effekt, bei dem Einkommenssteigerungen – etwa durch eine Gehaltserhöhung – nur auf dem Papier zu einem höheren Einkommen führen. Der Grund dafür liegt in der Progression des deutschen Steuersystems: Je mehr man verdient, desto höher wird der Steuersatz. 

 

In Zeiten hoher Inflation können Gehaltserhöhungen lediglich dazu dienen, die gestiegenen Lebenshaltungskosten auszugleichen. Da aber die Steuersätze an der Lohnerhöhung orientiert sind und nicht an der Kaufkraft, wird ein größerer Teil des Einkommens durch höhere Steuern aufgefressen, ohne dass real mehr Geld zur Verfügung steht.

 


Die Mechanik der kalten Progression

 

Das deutsche Einkommensteuersystem ist progressiv aufgebaut, was bedeutet, dass mit steigendem Einkommen auch der Steuersatz stufenweise zunimmt. Die kalte Progression tritt dann auf, wenn durch eine Gehaltserhöhung – die tatsächlich nur die Inflation ausgleicht – das Einkommen in eine höhere Steuerstufe rutscht, ohne dass es einem realen Mehrwert entspricht. Diese schleichende Steuererhöhung führt dazu, dass die Kaufkraft trotz nominal höherem Einkommen oft gleich bleibt oder im schlimmsten Fall sogar sinkt.

 


Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung

 

Angenommen, ein Arbeitnehmer verdient monatlich 3.000 Euro und erhält eine Erhöhung auf 3.150 Euro, was einer Steigerung von 5 % entspricht. Diese Erhöhung deckt genau die Inflationsrate, die in diesem Jahr ebenfalls bei 5 % liegt. Nominal hat er also mehr Einkommen, doch durch die Progression im Steuersystem könnte sich sein Steuersatz nun erhöhen, sodass er nach Steuern weniger als die 5 % Zuwachs spürt. Die kalte Progression frisst den Kaufkraftzuwachs auf, und das zusätzlich versteuerte Einkommen sorgt so dafür, dass er real kaum oder gar kein Plus in der Tasche hat.

 


Wie groß ist das Problem?

 

Die kalte Progression ist mehr als nur eine theoretische Größe. Der Effekt betrifft vor allem die mittleren Einkommen. Gerade sie sind es, die regelmäßig in neue Steuersätze hineinrutschen und dennoch im Alltag kämpfen, mit ihrem Einkommen auszukommen. 

 

Da die Lohnsteuer ab einem Einkommen von rund 11.604 Euro pro Jahr (Stand 2024) bzw. 12.084 Euro (voraussichtlich Stand 2025) greift und der Spitzensteuersatz von 42 % ab einem Jahreseinkommen von etwa 66.761 Euro (2024) bzw. 68.430 Euro (voraussichtlich 2025) fällig wird, betrifft dies viele Arbeitnehmer. Die sogenannte Reichensteuer wird dann ab einem Einkommen von 277.826 Euro pro Jahr erhoben.

 

Dieser Effekt ist insbesondere in Zeiten hoher Inflation und geringer Erhöhungen im Grundfreibetrag verstärkt spürbar. Auch die kalte Progression wirkt hier wie ein „Zusatzsteuer“, die Kaufkraft von Bürgern reduziert, ohne dass eine Gesetzesänderung beschlossen wurde.

 


Historischer Hintergrund und steuerpolitische Debatte

 

Das Phänomen der kalten Progression ist bereits seit den 1970er Jahren bekannt, doch wurde lange ignoriert. Erst in den 1980er Jahren erfuhr es vermehrte Aufmerksamkeit, und man begann nach Möglichkeiten zu suchen, diesen schleichenden Steueranstieg einzudämmen. 

 

Ab 2016 hat die Bundesregierung – angesichts zunehmender Kritik und unter dem Druck der Öffentlichkeit – reagiert und regelmäßige Anpassungen im Steuertarif vorgenommen, um die Effekte der kalten Progression abzufedern. 

 


Maßnahmen gegen die kalte Progression

 

Es gibt verschiedene Maßnahmen, die den Effekt der kalten Progression ausgleichen könnten. Diese setzen allerdings voraus, dass die Bundesregierung entsprechende Schritte ergreift:

 

  1. Regelmäßige Anpassung des Steuertarifs an die Inflation: Durch diese Methode würde sichergestellt, dass Einkommenssteigerungen, die lediglich die Inflation ausgleichen, nicht zu höheren Steuern führen. Der Grundfreibetrag und die Grenzwerte für die Steuerklassen würden entsprechend angepasst werden.

  2. Automatische Steueranpassungsgesetze: Ein automatisches System, das die Grenzwerte im Steuersystem automatisch der Inflationsrate anpasst, könnte Abhilfe schaffen. Solche Systeme existieren bereits in einigen Ländern und könnten dafür sorgen, dass die Anpassung der Steuerstufen nicht mehr von einer politischen Entscheidung abhängig ist.

  3. Entlastungspakete und Steuererleichterungen: Angesichts hoher Inflationsraten könnten Entlastungspakete wie Einmalzahlungen oder befristete Steuererleichterungen kurzfristige Lösungen bieten. Allerdings wären dies keine nachhaltigen Lösungen, da sie lediglich den Effekt abmildern, aber das Problem nicht an der Wurzel packen.

  4. Ausgleich über höhere Steuerfreibeträge: Der Grundfreibetrag könnte jährlich stärker angepasst werden, sodass insbesondere die unteren und mittleren Einkommen stärker entlastet werden.

 


Steuerlicher Effekt im Alltag

 

Für den Alltag bedeutet kalte Progression, dass die Kaufkraft trotz Gehaltserhöhungen stagnieren kann. Die zusätzlichen Steuerzahlungen führen oft dazu, dass die Inflation nicht voll ausgeglichen wird. Besonders in Berufsgruppen mit regelmäßigen, jedoch moderaten Gehaltssteigerungen – wie im öffentlichen Dienst oder in der Pflege – ist dies ein spürbares Problem. 

 


Kritik und Kontroversen

 

Obwohl die kalte Progression häufig kritisiert wird, gibt es auch Stimmen, die die kalte Progression als notwendige Steueranpassung zur Stabilisierung des Haushalts ansehen. Befürworter argumentieren, dass die kalte Progression es dem Staat ermöglicht, seine Einnahmen ohne Gesetzesänderungen zu steigern. Dies hilft, Infrastrukturprojekte zu finanzieren und soziale Ausgaben zu decken. Kritiker hingegen sehen darin eine versteckte Steuererhöhung, die vor allem die Arbeitnehmer und Familien belastet.

 


Quintessenz

 

Die kalte Progression ist ein oft übersehenes, aber tiefgreifendes Problem unseres Steuersystems, das besonders bei hoher Inflation die Bürgerinnen und Bürger belastet. Gehaltserhöhungen, die lediglich die Inflation ausgleichen, führen zu höheren Steuersätzen, ohne dass die Kaufkraft real gesteigert wird. Eine regelmäßige und automatische Anpassung des Steuertarifs an die Inflation könnte eine Lösung darstellen, ist jedoch bislang nicht fest verankert.

 

Für den Moment bleibt uns als Steuerpflichtigen nur, das Problem zu kennen und im Auge zu behalten.



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